Auf gut Glück

Erdstall

Ein Erdstall ist ein Tunnelsystem meist unter einem Bauernhof, in der Nähe einer Kirche oder eines Friedhofs. Mit Ställen für Vieh hat der Erdstall nichts zu tun: Das Wort «Stall» kommt hier vielmehr vom bergmännischen «Stollen». Tatsächlich besteht ein Erdstall aus bis zu 50 Meter langen Gängen mit einem engen Durchschlupf, mit Kammern, Stufen, Bänken und Nischen. Allein in Bayern gibt es über 700 davon, doch auch in Österreich, Tschechien, der Slowakei und Ungarn, seltener auch in Frankreich, Spanien und Irland wurden Erdställe entdeckt. Alle wurden sie fast zeitgleich Ende des 13. Jahrhunderts aufgegeben.

Von wem sie erbaut wurden, wann und zu welchem Zweck, liegt dagegen völlig im Dunkeln. Die Archäologie weiss vor allem, was ein Erdstall nicht ist: Für ein Lager sind Erdställe zu eng und zu niedrig, und ausserdem wurden in ihnen kaum Spuren menschlicher Nutzung gefunden. Auch ein Fluchtort waren sie kaum, weil sie nur einen Eingang haben und Flüchtende im Fall einer Entdeckung in der Falle gesessen hätten. Auch als Notunterkunft kommen sie nicht in Frage, weil es in Erdställen kalt ist und ein Feuer den Sauerstoff aufgebraucht hätte. Eine Theorie besagt, dass Erdställe sogenannte «Leergräber» waren, symbolische Gräber für weit entfernte Tote, Soldaten etwa, die fern der Heimat gefallen waren. Andere Forscher deuten Erdställe als eine Art Wartesaal für die Seelen Verstorbener; dafür spricht, dass die Anlagen genau zu der Zeit aufgegeben wurden, als die Kirche damit begann, die Lehre vom Fegefeuer zu verbreiten.

Solange aber keine hieb- und stichfesten Belege gefunden werden, bleiben Erdställe, was sie sind: ein grosses Rätsel.

Von A bis Z

@-Zeichen

Die erste E-Mailnachricht der Welt stammt vom Informatiker Ray Tomlinson. Sie war bloss ein Test und bestand aus einem wirren Buchstabensalat. Es war das Jahr 1971; die US-Regierung unter Richard Nixon machte Druck, um gegenüber der Sowjetunion nicht in Rückstand zu geraten, und Tomlinson arbeitete an einem Programm, mit dem sich Daten über ein Netzwerk verschicken liessen. Das Netz hiess noch Arpanet, und angeschlossen waren gerade mal 15 Computer, grösser als Kühlschränke. Ihre technischen Bezeichnungen aber waren viel zu kompliziert, und so suchte Tomlinson nach Rechneradressen, die man sich merken konnte. Ausgerechnet auf dem Telex seiner Firma, oberhalb des P, fand er ein Steuerzeichen, das im Datenverkehr noch nicht gebraucht wurde, das @-Zeichen. At, auf Deutsch «bei», passte gut: Der Bauplan der neuen Adressen – Name, @-Zeichen, Domäne – liess sich ohne weiteres lesen als «Person X bei Unternehmen Y».

Und doch: Das @-Zeichen ist uralt. Schon im Mittelalter gab es Ligaturen, Buchstabenverbindungen aus a und d für das lateinische ad, «zu» oder «bei». Weil sich das @-Zeichen auf alten Wein- und Olivenfässern findet, nimmt man an, dass es von den Mauren als Masseinheit nach Europa gebracht worden war. Spanische, portugiesische und französische Händler brauchten es als Bezeichnung für eine arroba, was ungefähr 10 Kilo oder 15 Litern entsprach.

Dass E-Mail zu einer der wichtigsten Computeranwendungen überhaupt werden sollte, war 1971 noch nicht abzusehen. Auch das @ hat Karriere gemacht. Es steht heute für das gesamte Internetzeitalter.

93 Gramm

Der Fund, den drei Freunde 2002 mit einem Metalldetektor auf einem Feld im walisischen Wrexham machten, war spektakulär: Bronzeäxte und Schmuck, hervorragend erhalten – und 3300 Jahre alt. Darunter war auch ein Halsring aus massivem Gold, der kunstvoll zu einer Doppelspirale verdreht war und der exakt 367,09 Gramm wiegt – ein Vermögen, auch in der Bronzezeit.

Diesen Ring nahm Archäologieprofessor Lorenz Rahmstorf von der Universität Göttingen unter die Lupe. Ähnliche Goldringe waren in England schon zuvor gefunden worden, und Rahmstorf verglich die Gewichte von 52 vergleichbaren Stücken mittels ausgeklügelter statistischer Methoden. Und die zeigen: Alle Ringe basieren auf einer Gewichtseinheit von 93 Gramm. Rahmstorf dehnte seine Untersuchung auf 100 weitere Goldfunde aus, die von den britischen Inseln und aus Nordfrankreich stammen. Und wieder zeigte sich: 93 Gramm waren in der Bronzezeit das Mass aller kostbaren Dinge.

Das ist bemerkenswert, denn es bedeutet: Schon im späten zweiten und frühen ersten Jahrtausend v. Chr. waren die Menschen in der Lage, präzise zu messen, und ihre Handelsrouten reichten weit über Europa hinaus: Die 93 Gramm (das sind ziemlich genau drei heutige Feinunzen) entsprechen nämlich fast genau dem «Deben», einer Gewichtseinheit der Pharaonen, die in altägyptischen Aufzeichnungen genannt wird. Von Ägypten bis zu den entlegensten britischen Inseln: Die Menschen der Bronzezeit kannten schon Kontinente übergreifende Masseinheiten und verlässliche Präzisionswaagen – nicht nur im hoch entwickelten Ägypten oder Mesopotamien, sondern auch in ganz Europa.

A4

A4 ist ein Weltstandard. Jeder Brief kommt heute in dieser Uniform daher. A4 entsteht durch viermaliges Falten eines Bogens vom Format A0, dessen Fläche exakt einen Quadratmeter beträgt und dessen Seitenverhältnis sich niemals ändert, egal, wie oft man es halbiert.

Offiziell wurde das Format 210 x 297 mm am 18. August 1922 vom Deutschen Institut für Normung in der DIN-Norm 476 festgelegt, aber es ist älter, viel älter. Entdeckt wurde A4 in der Zeit der Aufklärung von unbekannten Papiermachern – und einem Studenten. Dessen Professor war der Göttinger Mathematiker und Physiker Georg Christoph Lichtenberg. In einem Brief an seinen Kollegen Johann Beckmann schreibt Lichtenberg am 25. Oktober 1786:

Ich gab einmal einem jungen Engländer, den ich in Algebra unterrichtete, die Aufgabe auf, einen Bogen Papier zu finden, bey dem alle Formate als forma patens, folio, 4to, 8, 16, einander ähnlich wären. Nach gefundenem Verhältniß wolte ich nun einem vorhandenen Bogen eines gewöhnlichen Schreib=Papiers mit der Scheere das verlangte Format geben, fand aber mit Vergnügen, daß er ihn würcklich schon hatte. (…) Die kleine Seite des Rechtecks muß sich nämlich zu der großen verhalten wie 1 : √2 oder wie die Seite des Quadrats zu seiner Diagonale.

Diese Form, fährt Lichtenberg fort,

hat etwas angenehmes und vorzügliches vor der gewöhnlichen. Sind den Papier=Formen machern wohl Regeln vorgeschrieben, oder ist diese Form durch Tradition nur ausgebreitet worden?

Eine schlüssige Antwort blieb aus, doch Lichtenbergs Begeisterung für das Format A4 und den zukunftsträchtigen Geistesblitz seines begabten Studenten tat dies keinen Abbruch.

Abakus

Der Abakus ist ein Gerät, wie es einfacher nicht sein könnte: Ein Holzrahmen, dazwischen aufgespannt eine Reihe von Stäben, auf denen schwarze Perlen aufgereiht sind. Was aussieht wie ein Kinderspielzeug, ist tatsächlich ein raffinierter Rechner, erfunden vor über dreitausend Jahren in Indien und China. Im Mittelalter entdeckten Japaner den Zählrahmen, und in einer etwas vereinfachten Form hielt er Einzug in den Handel der aufgehenden Sonne.

Der Abakus hat es in sich. In Windeseile kann man mit ihm addieren, subtrahieren, multiplizieren und dividieren; selbst Quadrat– und Kubikwurzeln lassen sich damit ziehen. Wenn’s ums einfache Zusammenzählen geht, kommen fingerfertige Händler mit dem Zählrahmen gar schneller zum Ziel als wir mit dem Taschenrechner.

Den Abakus kannten bereits die Römer, auch wenn ihre Version – bedingt durch das umständliche Zahlensystem – nicht ganz so leistungsfähig war. Der lateinische Name stammt vom noch älteren griechischen abax ab, einer mit feinem Sand bestreuten Platte, die zum Skizzieren oder eben zum Rechnen diente.

Jahrhundertelang in Gebrauch, wurde der Abakus in Westeuropa erst durch das schriftliche Rechnen mit den neuen indisch-arabischen Zahlen und später durch die ersten mechanischen Rechenmaschinen verdrängt. Die russische Variante, der Stschoty (von russisch Stschot, «Rechnung»), lebte auf den Märkten der früheren Sowjetunion weiter; in russischen Schulen wurde Rechnen mit dem Abakus noch bis in die Neunzigerjahre unterrichtet. Heute ist der Abakus nur noch, wonach er aussieht: Ein Spielzeug. Aber eines mit Geschichte.

Abkupfern

Abkupfern liegt im Trend. Man findet einen klugen Text, markiert ihn mit der Maus, kopieren, einfügen, und zack, schon wird der fremde Gedanke zum eigenen. Copy & Paste lässt Doktorarbeiten, Sachbücher und Romane entstehen, und wird ein Autor beim Klauen ertappt, windet er sich heraus: Alles gar nicht wahr, und ausserdem machen das alle so.

Dabei ist Abkupfern im Grunde eine Kunst. Dank Johannes Gutenberg lassen sich zwar Bücher in Massen herstellen, doch die Inkunabel, wie man das gedruckte Buch aus dem 15. Jahrhundert nennt, muss noch einzeln und von Hand illustriert werden. Oder aber: Ein Kupferstecher muss her. Der kopiert eine Originalzeichnung minutiös, indem er sie in eine wenige Millimeter dicke, glatt polierte Kupferplatte ritzt, mithilfe eines Stichels und seitenverkehrt. Anschliessend wird Platte aufs Papier gepresst, das die in den Rillen haftende Druckfarbe aufnimmt und am Ende eine exakte Kopie wiedergibt. Die Illustration ist damit «abgekupfert».

Das tägliche Brot der Kupferstecher war das Übertragen der Arbeit anderer, und bald einmal standen sie im Ruf, blosse Kopisten zu sein. Die sprichwörtliche Anrede «Mein lieber Freund und Kupferstecher» ist denn auch kumpelhaft-ironisch gemeint – und zuweilen gar abwertend: Nicht selten «vergass» nämlich der Kupferstecher, den Urheber des Originals zu nennen, wie es üblich gewesen wäre, und mit dem Aufkommen gedruckter Banknoten war das Handwerk des Kupferstechers bestens dazu geeignet, Blüten in grosser Zahl herzustellen.

Ob fremde Kunst, fremdes Geld oder fremde Gedanken: Seither ist Abkupfern Falschmünzerei.